Bearing Witness

Ethik der Erinnerung

APPELL DER ÜBERLEBENDEN UND NACHKOMMEN

Ehemaliges deutsches Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau

Am 9. Oktober 2020 beschloss der Deutsche Bundestag ohne Gegenstimmen die Errichtung einer „Dokumentationsstätte zur Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft“ unter Federführung der Kulturstaatsministerin. Dabei sollte insbesondere „den Nachkommen der Opfer Raum für Gedenken und Erinnerung“ gegeben werden. Wenige Tage später beschloss der Deutsche Bundestag ohne Gegenstimmen auch die Errichtung eines „Erinnerungsortes für die Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen“ unter Federführung des Auswärtigen Amtes.

Der Verzicht auf die Einbindung von NS-Überlebenden, Minderheiten und den Nachkommen der NS-Verfolgten bei der Umsetzung der beiden Beschlüsse des Deutschen Bundestages, bereits in einem frühen Stadium, stellt einen Bruch der mühsam erkämpften Erinnerungskultur und Zäsur in der bisherigen erinnerungspolitischen Tradition in Deutschland.

 

Ehemaliges deutsches Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau

Im Gegensatz zur bisherigen erinnerungspolitischen Tradition wurde eine Mitarbeit von Verbänden ehemaliger KZ-Häftlinge, NS-Verfolgten oder Minderheiten aus der Besatzung betroffenen Ländern nicht strukturell, bereits in einem frühen Stadium sichergestellt. Die, selbstverständlich sachlich und fachlich begründeten, Perspektiven der Nachkommen und Angehörigen der Opfer der NS-Verfolgten in Europa bilden eine weitere Leerstelle.

Aus diesem Grund entscheiden sich Vertreter der polnischen Roma, Jüdischen WiderstandskämpferInnen sowie ehemaliger KZ-Häftlinge gemeinsam mit Nachkommen, die sich in Internationalen Häftlings-Komitees und Lagerarbeitsgemeinschaften für die Bewahrung der Zeugenschaft engagieren, gemeinsam auf diesen Mangel in einem offenen Brief hinzuweisen.

ETHIK DER ERINNERUNG

Ehemaliges deutsches Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau

Erinnerung erfordert nicht nur Gedenken, sondern aktive Zeugenschaft, denn aus der Vergangenheit allein und der Beschäftigung mit der Geschichte entspring kein verantwortliches Handeln. Zeugenschaft ist kein abstraktes Prinzip, vielmehr beleuchtet es konkret die Gegenwart aufs Neue aus seiner Geschichtlichkeit heraus. Erst die Bereitschaft zur Übernahme der Verantwortung in der Gegenwart befähigt dazu die historische Erfahrung in der Solidarität der Gegenwart anzunehmen.
Der Buchenwald-Häftling Dietrich Bonhoeffer hat ein solches verantwortungsvolles Handeln für den Nächsten als politische Verpflichtung definiert, um „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“

Keine Gedenkstätte wäre in Deutschland ohne das Engagement von NS-Überlebenden, der von Verfolgung betroffenen Minderheiten und Ihrer Häftlings-Komitees denkbar. Angesichts des Verstummens der letzten Überlebenden stehen Gedenkstätten vor besonderen Herausforderungen.

Ein rein staatliches Gedenken ohne die Einbindung der Überlebenden und Nachkommen der NS-Verfolgten als zivilgesellschaftlicher Beteiligung kann Erinnerung nicht bewahren. Dies wäre ein Rückfall in die Weigerungshaltung der deutschen Nachkriegsgesellschaft die NS-Verbrechen und ihre Folgen anerkennen zu wollen.
Überlebende und Nachkommen sind keine Statisten der Erinnerungskultur, die ritualisiertes Gedenken legitimieren und schweigen sollen. Erinnerung kann in Zukunft nur durch aktive Zeugenschaft gelingen, denn aus der Vergangenheit allein entspring kein verantwortliches Handeln für die Gegenwart. Notwendig ist die Anerkennung der Fortführung der Zeugenschaft in Zukunft als ethischer Verpflichtung aus der Vergangenheit.

Dies umso mehr als die Erinnerung an die Menschheitsverbrechen der Shoah und des Holocaust an den Sinti und Roma zunehmend relativiert werden. Die Verharmlosung und Verfälschung der historischen Realität des Holocaust und der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen unter denen die Shoah möglich wurde wird immer sichtbarer. Nachkommen müssen mit kritischer Reflexion Erinnern und Gedenken aktiv mitgestalten können und an der Bewahrung der Zeugenschaft teilhaben.

Gedenkstätten werden als gesellschaftliche Verhandlungsräume auch auf Nachkommen in Zukunft nicht verzichten können, um die Banalisierung des Gedenkens und tourismuspolitische Relativierungen zu verhindern. Dafür müssen Nachkommen strukturell eingebunden werden!

VERMÄCHTNIS DES BUCHENWALD-SCHWURS

Buchenwald-Schwur im Glockenturm der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald

Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung!
Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel!

Die Losung des Buchenwald-Schwurs ist Ausdruck eines universellen Bekenntnisses das singuläre Menschheitsverbrechen der Shoah, bei dem drei Viertel der europäischen Juden vernichtet wurden, den Völkermord an 500.000 Sinti und Roma und die zahlreichen Opfer der NS-Vernichtungspolitik im besetzten Europa, durch aktive Verantwortungs-Übernahme für zukünftige Generationen im Gedächtnis zu bewahren und eine Wiederholung in Zukunft zu verhindern. 

Das Internationale Komitee Buchenwald Dora und Kommandos (IKBD) entstand nach der Befreiung als Fortführung des internationalen illegalen Lagerkomitees (ILK), um die Solidarität der Häftlingsgesellschaft im KZ Buchenwald lebendig zu halten. 76 Jahre nach der Gedenk-Zeremonie für die ermordeten Kamerad*innen, bei dem wir den Buchenwald-Schwur leisteten, stehen wir heute vor neuen Herausforderungen in der Gedenk- und Erinnerungspolitik.

Das IKBD hat frühzeitig mit der Übertragung der Verantwortung von den letzten Überlebenden an die Nachkommen begonnen, wodurch sie beauftragt wurden, die Bewahrung der humanistischen Werte des Buchenwald-Schwurs in Zukunft mit Gleichgesinnten zu gewährleisten. Der Buchenwald-Schwur darf nicht lediglich als historisches Ereignis verstanden werden, das einzig der Selbstvergewisserung im Gedenken der Demokraten dient.

Äußere Figuren-Gruppe „Der Schwörende, der Rufende, der Zweifler und der Zyniker“ des Buchenwald-Denkmal von Fritz Cremer

Der Buchenwald-Schwur bleibt eine besondere Errungenschaft des Widerstands gegen den deutschen Faschismus dessen Vermächtnis auf ein ethisch und politisch verantwortliches und solidarisches Handeln im hier und jetzt gerichtet ist! Seine republikanischen Werte bieten eine wichtige Orientierung in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Antiziganismus, Rechtspopulismus und Rechtsnationalismus.

Die aktuellen Bedrohungen im Kontext unserer Vergangenheit

Gleise am ehemaligen KZ-Aussenlager Ellrich des KZ Buchenwald

Voraussetzung einer offenen, demokratischen Gesellschaft ist die freie Entfaltung politischer Meinungen. Doch die Grenze der Meinungsfreiheit ist immer dann erreicht, wo andere Personen oder Gruppen aus der Gesellschaft ausgeschlossen, diskriminiert und verfolgt werden. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), die als Konsequenz der nazistischen Barbarei von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde, sieht vor, dass keine ihrer Bestimmungen dahingehend ausgelegt werden darf, eine Handlung zu begehen, welche die Beseitigung der in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten zum Ziel hat. Es ist kein Zufall, dass an der Ausformulierung dieser Erklärung, auch ehemalige Häftlinge des KZ Buchenwald mitgewirkt haben.

Gleise am ehemaligen KZ-Aussenlager Ellrich des KZ Buchenwald

Die politische und soziale Teilhabe aller Menschen zu gewährleisten, sie zu schützen und die Demokratie zu stärken, liegt zu allererst in der Verantwortung staatlicher Institutionen. Zugleich ist es jedoch essentiell, dass alle Mitglieder der Gesellschaft befähigt werden gleichberechtigt als politische Subjekte ihre individuelle Verantwortung übernehmen zu können.

Der bislang auch nach dem Münchener Prozess und mehrerer parlamentarischer Untersuchungsausschüsse nicht vollständig aufgeklärte NSU-Komplex und das Versagen der Behörden ebenso wie die enorme Zahl rassistischer Morde, die seit der Wiedervereinigung in der Bundesrepublik von Neonazis verübt wurden, führt zu Verunsicherung.

Prozessbeobachtung beim Halle-Prozess zum Yom Kippur-Anschlag

Über zwei Jahrzehnte kämpften auch die Überlebenden und Nachkommen der rassistischen Gewalt der 1990er Jahre, namentlich des Neonazi-Anschlages von Mölln vom 27. November 1992 aber auch Solingen vom 29. Mai 1993 aber die Betroffenen der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen vom August 1992 um Anerkennung, Entschädigung und eine Entschuldigung. Neue Anschläge und Morde vor der Synagoge in Halle und im Kiez-Döner sowie Hanau und die damit verbundenen Gerichtsverfahren zeigen welche Bedeutung Zeugenschaft und Erinnerungsarbeit hat. Vielfach trifte die heutige antisemitische, antiziganistische, frauenfeindliche und rassistische Gewalt, ähnlich wie die Gewalt der sog. Baseballschlägerjahre auch Nachkommen der Shoah, Angehörige von NS-Verfolgten oder Nachkommen von kolonialrassistischer Verfolgung. Dieser Erfahrung müssen wir uns auch bei der Bewahrung der Zeugenschaft stellen.

Erinnerung an die Opfer des Anschlages in Hanau in Berlin am Kino international

Der lange verleugnete Beitrag der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma für unsere Gesellschaft, die unzureichende Anerkennung marginalisierter NS-Verfolgten-Gruppen, aber auch die Bemühungen um Anerkennung der Nachfahren ehemals Versklavter und Kolonisierter, deren Erfahrungen mit der NS-Verfolgung verwoben, jedoch nicht in der Erinnerungskultur vertreten sind, geht einher mit der Fortschreibung bestehender Diskriminierungen.

Die fehlende Bereitschaft zur Aufarbeitung der Nachwirkungen der NS-Verfolgung sowie die aktuellen sozialen Verwerfungen in Europa schwächen das Vertrauen in unsere Demokratie. Dies befördert das Wiedererstarken rechtsnationalistischer und rechtspopulistischer Ideologien. Antisemitismus, Antiziganismus aber auch Antikommunismus, Chauvinismus und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit bieten erneut den Nährboden für Gewalt und hate speech.

Die nationalsozialistischen Verbrechen konnten nur verübt werden, weil der Grundsatz der Gleichheit aller Menschen und deren fundamentale Rechte aufgehoben wurden. Die konservativen und wirtschaftlichen Eliten der Weimarer Republik hatten mit der parlamentarischen Demokratie frühzeitig gebrochen. Durch die Machtübertragung an Hitler wurden Meinungs- und Pressefreiheit aufgehoben. Die „Nürnberger Rassengesetze“ schufen eine rechtliche Legitimation für Diskriminierung, Ausgrenzung, Entrechtung und Verfolgung, die im Völkermord mündete. Zugleich begrüßten viele Menschen die „nationale Revolution“ mit einem Gefühl der „Erlösung“ von der Demokratie. Aus Terror und Gemeinschaft, Einbindung und Ausgrenzung, Zugehörigkeit und Verfolgung entstand, die von der Mehrheit der Deutschen mit Zustimmung getragene „Volksgemeinschaft“.

Ausgrabungen am ehemaligen „Schlauch“ in der Gedenkstätte des deutschen Vernichtungslagers Sobibor
Auszug aus der neuen Ausstellung in der Gedenkstätte des deutschen Vernichtungslagers Sobibor

Der jüdische Widerstand, insbesondere in den deutschen Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor sowie der Aufstand der Sinti und Roma im deutschen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, aber auch der internationale Widerstand im KZ Buchenwald sind Ausdruck der Bemühungen, um die Rückgewinnung der universellen Menschenwürde und den Kampf um eine Welt des Friedens und der Freiheit.

Keine Normalisierung der Erinnerungspolitik!

Die Shoah legte nicht nur die Aporien der Menschenrechte offen (Hannah Arendt), sondern auch die unauflöslichen Widersprüche der Demokratie. Der Abbau der Rechtstaatlichkeit in Europa macht deutlich, dass demokratische Gleichheitsrechte, politische Pluralität und die Bedeutung des universellen Vermächtnisses des Holocaust immer wieder verteidigt und angesichts einer sich stetig ändernden Gegenwart weiterentwickelt werden müssen.

Für uns, die Überlebenden und Nachkommen, stellt sich deshalb die Frage, wie das Gedenken und die Erinnerung im Sinne des Buchenwald-Schwurs neu konstituiert und die Bewahrung der Demokratie in den Mittelpunkt der Gedenkstätten-Arbeit rücken kann.

Antisemitismus und Antiziganismus sowie Angriffe auf die Gedenk- und Erinnerungskultur in den KZ-Gedenkstätten spiegeln den Rechtsruck auch in der Mitte der Gesellschaft wieder. Sie dürfen nicht unwidersprochen bleiben. Das bedeutet: Keine Normalisierung des Gedenkens unter Teilnahme von Rechtspopulisten, Rechtsnationalisten und Feinden der Demokratie!

 

Notwendige Reform der Gedenkstättenkonzeption des Bundes

Der internationale Widerstand in Buchenwald war keine Utopie, sondern gelebtes Bekenntnis zur Übernahme der Verantwortung für das Überleben der Häftlinge. Trotz Terror und Gewalt entstand auf Grundlage eines solidarischen Miteinanders ein internationales Widerstandsnetzwerk. Die sich darin verkörpernden humanistischen Werte bilden einen zentralen Grundstein für die Entwicklung neuer Vermittlungsformate und Konzepte der politischen Bildung bei der NS-Aufarbeitung.

Gleise am ehemaligen deutschen Vernichtungslager Sobibor

Die gegenwärtige Gedenkstättenarbeit ist noch oft von der Vorstellung geprägt, die Geschichte der NS sei ein abgeschlossener Gegenstand, wodurch das Vermächtnis der NS-Verfolgten nicht in seiner allgemeingültigen Dimension und aktiven Haltung für die Gegenwart berücksichtigt wird. Der stattfindende Generationenwechsel stellt uns vor neue Herausforderungen die Gedenkstättenarbeit neu zu strukturieren.

Im Zentrum dieses Prozess müssen alle AkteurInnen unserer divers-kulturellen Erinnerungskultur als PartnerInnen stehen. Die Nachkommen bilden eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Kampf um Gleichheitsrechte und die Beseitigung fortbestehender Diskriminierungen. Die NS-Gedenkstätten können nicht nur Orte der Aufklärung über die Vergangenheit bleiben, vielmehr muss eine Verständigung darüber erreicht werden, wie die Vermittlung historischer Erfahrungen mit aktuellen Bezügen und Debatten in der Gesellschaft verbunden werden kann.

Gleise von der sog. „Alten Judenrampe“ zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau

Die Nachkommen, die oft unter transgenerationeller Trauma-Weitergabe leiden, haben eine Stimme, die bisher nicht angemessen in der Erinnerungspolitik berücksichtigt wird. Sie werden zunehmend zur Zielscheibe von Rechtsnationalisten. Die Nachfahren der Häftlinge sollten als PartnerInnen der Gedenkstättenarbeit einen entsprechenden Platz einnehmen. Dafür sollte ein Mitspracherecht dieser PartnerInnen in Stiftungen und Beiräten der Gedenkstätten hergestellt werden. VertreterInnen der internationalen Lagerkomitees und WissenschaftlerInnen aus den von Deutschland überfallenen Ländern müssen in diese Gremien einbezogen, deren finanzielle Unterstützung festgeschrieben werden.

Gleise von der sog. „Alten Judenrampe“ zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau

Buchenwald als europäischer Gedenkort steht für die Möglichkeit und Notwendigkeit einer neuen europäischen Idee der Solidarität. Um diese zu verwirklichen, müssen die Kontinuitäten und Nachwirkungen der Diskriminierungen aufgezeigt und beseitigt werden, die blinden Flecken der NS-Aufarbeitung sowie die verwobenen Geschichten zwischen kolonial-rassistischen Denkmustern und der NS-Verfolgung, gemeinsam mit den betroffenen Nachkommen bearbeitet werden.

Diese Erkenntnis muss in die Gestaltung des kollektiven Gedenkens Eingang finden, um das Vermächtnis der Vergangenheit für neue Generationen zu erhalten und unsere Demokratie für die Zukunft zu stärken.

Kamil Majchrzak, Juni 2021

UNSERE FORDERUNGEN

Blick auf den Kohnstein im ehemaligen KZ-Aussenlager Harzungen des KZ-Buchenwald

Strukturelle Einbindung der Interessen-Verbände der NS-Verfolgten der Shoah und des Holocaust an den Sinti und Roma sowie der NS-Verfolgten und ehemaligen antifaschistischen WiderstandskämpferInnen sowie ihrer Nachkommen, aus den -von Deutschland und seinen Verbündeten in Europa 1939-1945- besetzten Ländern bei der Umsetzung des einstimmigen Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 9. Oktober 2020 zur Errichtung einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft (kurz: „Dokumentationsstätte zur Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft“)

Strukturelle Einbindung der Interessen-Verbände der NS-Verfolgten der Shoah und des Holocaust an den Sinti und Roma sowie der NS-Verfolgten und ehemaligen antifaschistischen WiderstandskämpferInnen aus der Republik Polen bei der Umsetzung des einstimmigen Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 30. Oktober 2020 zur Errichtung eines Erinnerungsortes an die Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen von 1939 bis 1945 und die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges (kurz: „Erinnerungsort für die Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen“)

Anerkennung des erinnerungspolitischen Beitrages der Nachkommen der Ermordeten und Überlebenden der NS-Verfolgung der Shoah und des Holocaust an den Sinti und Roma und deutschen Besatzungsterrors in Europa, bei der Bewahrung der Zeugenschaft

institutionelle Unterstützung und Verankerung der Bemühungen der Nachkommen bei der Bewahrung der Zeugenschaft in bestehenden Strukturen der Gedenkstättenarbeit

 

Wir brauchen Eure Unterstützung und Eure Stimme für eine notwendige Debatte, um die Bedingungen der Möglichkeit der Bewahrung von Zeugenschaft sowie der Rolle der Nachkommen der NS-Verfolgten in der Erinnerung- und Gedenkarbeit, ihrer strukturellen Einbindung in bestehende und neu zu entwickelnde Gedenkstättenstrukturen und der Zivilgesellschaft bei der Gewährleistung von Erinnerung und Gedenken an die Opfer des NS und dessen gesellschaftliche Ursachen in Zukunft.

DISKUSSION

Einladung zur Diskussion, Austausch und gemeinsamen Verständigung mit Nachkommen von NS-Überlebenden, Vertreter*innen verfolgter Minderheiten und erinnerungspolitisch Interessierten, durch das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos (IKBD) in Kooperation mit dem Bildungsportal „Lernen aus der Geschichte“ (LaG).

Erinnerung erfordert nicht nur Gedenken, sondern aktive Zeugenschaft, denn aus der Vergangenheit allein und der Beschäftigung mit der Geschichte entspringt noch kein verantwortliches Handeln in der Gegenwart. Zeugenschaft ist dabei kein abstraktes Prinzip, vielmehr beleuchtet es konkret die Gegenwart aufs Neue aus seiner Geschichtlichkeit heraus. Notwendig ist die Bereitschaft zur Übernahme einer ethischen Verantwortung in der Gegenwart als Vermächtnis aus der historischen Erfahrung.

Vor diesem Hintergrund spricht die polnische Philosophin Dr. Katarzyna Liszka von der Universität Wrocław von der Möglichkeit einer „decent memory“, die mit einer ethischen Verpflichtung einhergeht.

Am 14. Juni 2021 wandten sich Überlebende deutscher Konzentrationslager, Juden*Jüdinnen, Rom*nja und ihre Nachkommen mit einem öffentlichen Brief an die Bundesregierung. Darin fordern sie strukturelle Einbindung der Interessensverbände der NS-Überlebenden der Shoah und des Holocaust an den Sinti und Roma und anderer NS-Verfolgten und ehemaligen antifaschistischen Widerstandskämpfer*innen sowie ihrer Nachkommen, bei der Errichtung eines „Erinnerungsortes für die Opfer deutscher Besatzungsherrschaft in Polen“ sowie einer „Dokumentationsstätte zur Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft“.

Der Brief wurde auf http://www.bearing-witness.net/ veröffentlicht und wird auch hier dokumentiert (s. „Download„).

Der Brief enthält darüber hinaus den Aufruf zur Aufnahme einer breiten Diskussion über die zukünftige Rolle der jungen Generation der Nachkommen bei der Bewahrung der Zeugenschaft in Europa und in der Welt, wenn die letzten Überlebenden verstummen. „Dies gebietet das Gedenken an die Opfer des Holocaust und aller Opfer des deutschen Besatzungsterrors in Europa und in der Welt und ist grundlegend dafür, dass künftige Generationen zur Freiheit von Rassismus und Hass, Achtung der Rechte von Minderheiten und Verteidigung der gemeinsamen Werte gesellschaftlicher Vielfalt, der Demokratie, der Solidarität und der Mitverantwortung für andere Menschen heranwachsen können.“

Das LaG-Portal möchte diese Anregung gemeinsam mit dem IKBD aufgreifen und zu einem Austausch von Pädagog*innen, Gedenkstättenmitarbeiter*innen, Historiker*innen und Ethiker*innen einladen. Wir werden uns bemühen nach Möglichkeiten Debatten-Beiträge ins Deutsche zu übersetzen und hoffen damit einen Beitrag zur Stärkung des Dialogs über diverse Perspektiven des Erinnerns in Europa leisten zu können.

Wir ermuntern insbesondere Nachkommen der NS-Verfolgten in Europa an der Debatte teilzunehmen. Teilt mit uns Eure Erfahrungen und schickt uns Eure Gedanken zu dem Thema:

Was ist Zeugenschaft und wer definiert sie? Sind Nachkommen der NS-Verfolgten Objekte oder Subjekte der Erinnerungsarbeit? Welche Rolle können oder sollen Nachkommen von NS-Verfolgten bei der Bewahrung der Zeugenschaft spielen? Wie kann Erinnerung ohne das Zeugnis der „moral witness“, der Überlebenden, in Zukunft in Gedenkstätten durch pädagogische Vermittlungsarbeit bewahrt werden? Vor welchen Herausforderungen und Gefahren steht Zeugenschaft angesichts der Rituale und Konjunkturen staatlicher Geschichtspolitik in Europa?

Welche Ambivalenzen oder Aporien der Zeugenschaft können entstehen? Welche Erfahrungen haben Nachkommen der NS-Verfolgten als Black, Indigenous, People of Color in ihrer Erinnerungs- und Gedenkarbeit gemacht? Welche Bedeutung hat Divers-Kulturalität für Nachkommen in Migrationsgesellschaften? Welche Rolle spielen dabei Erinnerungen an die NS-Verfolgung als Bezugspunkte um gegen aktuelle Ausgrenzungspraktiken und Diskriminierungen vorzugehen? Welchen Beitrag leisten Nachkommen mit divers-kulturellen Hintergrund zur Bearbeitung von verwobenen Erfahrungen kolonial-rassistischer Verfolgung im NS und deren gesellschaftlichen Nachwirkungen? Welche Erfahrungen haben Nachkommen im Umgang mit rassistischer Gewalt und Diskriminierungen der sog. Baseballschlägerjahre gemacht? Welche Strategien der Bearbeitung der persönlichen und familiären Erfahrungen und Traumata erarbeiten Nachkommen gegenüber Alltags-Rassismus? Welche Erfahrungen haben Nachkommen im Kampf gegen fehlende Anerkennung als politisches Subjekt der Erinnerungsarbeit innerhalb etablierter Gedenk-und Erinnerungsstrukturen gemacht?

Welchen Beitrag leisten Nachkommen heute in der erinnerungspolitischen Bildungsarbeit, im Bereich der psychosozialen oder humanitären Unterstützung der Überlebenden und Angehörigen?

Kamil Majchrzak

Nachkomme, Mitglied im Vorstand des Internationalen Komitee-Buchenwald-Dora (IKBD)

ÜBER UNSERE INITIATIVE

Blick auf den Kohnstein im ehemaligen KZ-Aussenlager Harzungen des KZ-Buchenwald

Wir sind Angehörige und Nachkommen der zweiten und dritten Generation von Überlebenden der Shoah und des Holocaust an den Sinti und Roma sowie der NS-Verfolgung. Wir möchten gemeinsam mit gleichgesinnten Menschen aus der ganzen Welt für die Bewahrung der Zeugenschaft an die nazistischen Verbrechen einsetzen. Dabei steht für uns als Nachkommen die Frage im Mittelpunkt welche Rolle wir in Zukunft beim Erinnern und Gedenken einnehmen sollen. Viele von uns sind seit Jahren als Nachkommen in Internationalen Komitees und Lagerarbeitsgemeinschaften bei der Bewahrung der Zeugenschaft im bildungspolitischen, sozialen und humanitären Bereich engagiert.

Die fortwährende Erhaltung der Erinnerung an die Vergangenheit bedeutet für uns vor allem eine ethische Verpflichtung zum Handeln in der Gegenwart. Deshalb kämpften wir in Vergangenheit auch für eine angemessene Entschädigung und rentenrechtliche Anerkennung der während des Nationalsozialismus von Deutschen ausgebeuteten Menschen in der Initiative Ghetto-Renten Gerechtigkeit Jetzt! . Bearing-Witness.net ist aus dem Bedürfnis entstanden angesichts des Verstummens der letzten Überlebenden, mit anderen Nachkommen in Europa und der Welt in Austausch zu treten.

KONTAKT

Kamil Majchrzak
c/o Initiative Ghetto-Renten Gerechtigkeit Jetzt!
Franz-Mehring-Platz 1
10243 Berlin
E-Mail: majchrzak@buchenwald-comite.org
Web: http://www.ghetto-renten-gerechtigkeit-jetzt.org/